FUNDAMENT

Schauspiel von Jan Neumannn

 

Es ist ein ganz normaler Tag in einer ganz normalen großen deutschen Stadt. Am Bahnhof herrscht geschäftiges Treiben. Da ist Frührentner Walther Röhrig, der mit einer Stunde Verspätung aus dem Zug steigt. Während der Fahrt hat der einsame Mann seine Mitreisenden mit einem pausenlosen Redeschwall über seine Sinnsuche in sämtlichen Weltreligionen geplagt. Auch Germanistikstudent Ben ist am Bahnhof, mit einem leeren Transparent, das er eigentlich längst mit einem Spruch vollgeschrieben haben wollte. Er will sich ja politisch engagieren. Aber wofür oder wogegen soll er angesichts der unübersichtlichen Weltlage denn sein?
Bettina Lauterbach, Angestellte, Ehefrau, Mutter von zwei präpubertären Töchtern und Bewohnerin eines halb abgezahlten Reiheneckhauses, hastet vorbei. Ein Anruf ihres Mannes hat sie vorfristig ihren einwöchigen Kurs »Blockaden lösen durch kreatives Malen auf Stoff« abbrechen lassen, und nun eilt sie ihren familiären Verpflichtungen entgegen. Dabei wäre sie gern wie jene elegante Frau, die ihr auf dem Bahnhof entgegen kommt, Marianne Krüger-Kaufmann (Mitte 50), viel jünger aussehend. Dass Frau Krüger-Kaufmann gerade auf einen Mann vom Escort-Service wartet und dass ihre Gefühle schon seit Kindertagen auf Eis liegen, sieht man ihr nicht an. Sie hält zunächst den sportlichen Typen im Smoking für ihren Escort-Mann. Aber nein, es ist Dr. Friedrich Kremm, Besitzer einer erfolgreichen Werbeagentur. Dank seines perfekt durchgeplanten Tages bekommt er all seine beruflichen und gesellschaftlichen Aktivitäten, sowie das allabendliche Liebesleben mit seiner Frau und die guten Gespräche mit seinen Söhnen unter einen Hut. Er wartet auf dem Bahnhof auf einen Gast, und nicht einmal ein Taubenschiss auf seinem Smoking kann das perfekte Lächeln aus seinem Gesicht vertreiben ...
... bis genau um 16.14 Uhr eine ohrenbetäubende Explosion den Bahnhof erschüttert. Ein Anschlag, der das Fundament der Gesellschaft ins Wanken bringt. 

Jan Neumann erhielt für »Fundament« den Förderpreis 2011 für Komische Literatur der Stadt Kassel. In der Begründung heißt es: »Neumanns faszinierende Theatertexte stellen sich einem Zeitalter, das sich in fundamentaler Verwirrung glaubt, auf eine kritische, moralische und dennoch unterhaltsame Weise. Sie entfalten ein breites Panorama an aktuellen Lebenserfahrungen und kluger Reflexion und beherrschen dabei alle Tonlagen des Komischen bis zu melancholischer Tragikomik.«

Fünf ganz normale Leben

Heilbronn  Uta Koschel inszeniert Jan Neumanns "Fundament" im Großen Haus als Schauspielertheater im besten Sinne. Das Stück zeigte bei der Premiere am Freitagabend kleine Ausschnitte aus unserer gesellschaftlichen Realität und blickte in ihre Abgründe.

Fünf Schauspieler und ein Schlagzeuger: Jan Neumanns "Fundament im Großen Haus des Stadttheaters. Thomas Braun

Niemand kann so etwas ahnen: dass es gleich vorbei sein wird, dass ein Verrückter seinen Sprengstoffgürtel zündet und etliche Menschen mit in den Tod reißt. Fünf Betroffene, die sich zur falschen Zeit am falschen Ort, einem Bahnhof, aufhalten begleitet das Stück "Fundament" von Jan Neumann in den letzten Stunden vor der Tat.

Nicht alle kommen ums Leben, und doch sind sie alle Opfer, denn danach ist auch für Überlebende nichts mehr wie es war. Mit minutenlangem rhythmischen Klatschen belohnte das Heilbronner Premierenpublikum am Freitagabend im Großen Haus die Leistung der Schauspieler und des Regieteams.

Fünf Lebenswirklichkeiten

Uta Koschels emotional fesselnde und intellektuell fordernde Inszenierung auf einer stark reduzierten Bühne (Tom Musch) aus Gerüsten, Podesten und Lampen ist Schauspielertheater im besten Sinne. Ohne Brimborium fokussiert sie den Blick des Zuschauers auf die fünf Menschen, die ahnungslos ihr Leben weiterleben.

Fünf Lebenswirklichkeiten werden ausgebreitet, wie sie alltäglich sind und in der dramatischen Verdichtung doch befremdlich wirken − mit Absicht. Der kleine Ausschnitt aus unserer gesellschaftlichen Realität ist vor allem ein Blick in ihre Abgründe, und die können hinter jeder Fassade lauern.

Inszenierung kippt - aber nur ganz kurz

Da ist diese Bettina, eine Ehefrau und Mutter zweier Töchter, die dank einer Verwechslung im völlig schrägen Kuschelkurs "Blockaden lösen durch kreatives Malen auf Stoff" landet und dort ihr psychisches Waterloo erlebt. Anja Schreiber als immer verzweifelter werdende Frau macht ihre Sache großartig, auch wenn Uta Koschel die Klischees, die derlei Kursen anhaften, etwas zu sehr auslatscht.

Komplett ins Läppische kippt die Inszenierung zwischendurch in der Szene mit dem Studenten, überzeugend gespielt von Anjo Czernich, und seiner WG. Da wird eine 70er-Jahre-Drogen-Kommune gezeigt, wie es sie in heutigen Zeiten der Effizienz-WGs wohl kaum noch gibt.

Momente von enormer Intensität

Doch dann gelingen Koschel wieder Momente von enormer Intensität. Die vornehme Frau Krüger-Kaufmann, die am Sterbebett ihres Vaters steht und dessen Ende vor Ekel kaum erwarten kann. Da muss Schlimmes vorgefallen sein. Solche Figuren sind eine souveräne Sache für Sabine Unger: In ihrem Pelzmantel wirkt sie selbstbewusst, auch arrogant und doch sehr zerbrechlich.

Hannes Rittig, wie Anja Schreiber neu im Heilbronner Ensemble, entpuppt sich als enorm vielseitiger Schauspieler, der − wie all die anderen auch − in mehrere Rollen schlüpfen muss und ihnen jeweils ganz eigene Facetten verleiht. Als der sich daueroptimierende Geschäftsmann Dr. Kremm, der zwischen Geschäftstermin und Golfspiel ein so großes Herz für die Armen und Schwachen hat, ist Rittig von bestechender moralischer Armseligkeit: ein selbstverliebter Angeber.

Die stärkste Szene des Stücks

Seine stärkste Szene hat das Stück aber schon gleich nach der etwas anstrengenden Exposition: Frührentner Wolfgang Röhrig, der im Zugabteil den desinteressierten Mitreisenden von seiner Suche nach dem Sinn des Lebens berichtet. Ein einsamer alter Mann, der niemanden hat, auch keine Orientierung mehr im Leben − und Jan Neumann legt ihm Worte in den Mund von Loriot"scher Qualität. Ein Fall, bei dem das Lachen im Halse stecken bleibt. Schlichtweg brillant spielt Stefan Eichberg diesen innerlich längst verblichenen Röhrig.

Die Musik auf ein einzelnes Schlagzeug zu konzentrieren, dem Ferenc Mehl so ziemlich alles entlockt, was das Instrument hergibt − vom wilden trommeln bis zum sanften Streichen über das Becken − ist in Sachen theatralischer Atmosphäre eine glänzende Idee.

Und am Ende kommt der eine große Knall, der das Fundament des Daseins zerstört. Was hatten sie nun für einen Sinn, diese fünf Leben? Ihre Ziele, Hoffnungen und Sehnsüchte, ihre Ängste und Verzweiflungen? Diese Frage nimmt man mit nach Hause.

Von Uwe Grosser